Das Märchen von der Wirtschaft – eine konservativ-wirtschaftsliberale Erzählung

Nach längerer Pause möchte ich heute über ein Thema schreiben, das mir bei Diskussionen im Internet genauso begegnet wie in Gesprächen mit Nachbarn und Bekannten oder an den Infoständen im Wahlkampf: „die (deutsche) Wirtschaft“.

Fahrradwege in Peru und flaschensammelnde Rentner

Die nämlich – so zumindest die immer wieder geäußerte Behauptung – wird von der Ampel „kaputt“ gemacht, indem in „ideologischem Wahn“ die Transformation und Dekarbonisierung vorangetrieben wird. Und überhaupt, niemand denkt mehr an „unsere eigenen Leute“. Ständig werden „Fahrradwege in Peru“ gebaut, während „die Rentner Flaschen sammeln“ (Rentnerinnen scheinen das nicht zu tun) und die Schulen vergammeln. Zudem bekommen es wahlweise „die Flüchtlinge“ oder „die faulen Arbeitslosen“ hinten reingeschoben, während der „ehrliche Deutsche“ (während „die Deutsche“ sich gefälligst um die Familie zu kümmern hat) bekanntlich der Dumme ist, der sich redlich 40 Stunden oder mehr die Woche abrackert, um am Ende mit weniger dazustehen, als „die faulen Arbeitslosen / Flüchtlinge / <hier Gruppe Ihrer Wahl einsetzen>“. Die Regierung ist sowieso unfähig und besteht aus lauter Amateur*innen (gerne auch ohne Schul- oder Studienabschluss oder Berufsausbildung), die fröhlich und unbeschwert jenseits der Realität der kleinen Leute vor sich hindilettiert. Wird Zeit, dass sich endlich mal wieder jemand die deutsche Wirtschaft von ihren linksgrünen Fesseln befreit und sich um die kleinen Leute kümmert! Unser Land zuerst!

Arbeiterbildungsverein

Was jetzt? Versuchen wir es mal mit einem klassisch sozialdemokratischen Ansatz: Bildung. Dazu gehört ein gewisses historisch-politisches Grundwissen, daher ein kleiner Ausflug in die 1980er Jahre. Ronald Reagan wurde 1981 Präsident der USA mit dem Versprechen, die Steuern zu senken und für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Das hat er dann auch getan. Die Steuern kräftig gesenkt, die Wirtschaft mit einer aggressiven Angebotspolitik (siehe Reagonomics) entfesselt – und die Staatsverschuldung der USA in astronomische Höhen getrieben. Merkmale dieser Wirtschaftspolitik, im Vereinigten Königreich von Margaret Thatcher in ähnlicher Form (siehe Thatcherismus) betrieben, waren ein schlanker Staat, Rückbau des Sozialstaates, reine Betrachtung des Arbeitsmarktes nach den Gesetzen der freien Märkte, kaum ökologische Interessen, Hinnahme von sozialer Ungleichheit usw. Also das, was gemeinhin als „neoliberal“ bezeichnet wird. Die Idee war: „Geht’s der Wirtschaft gut, profitieren alle!“ Zusammengefasst wird das auch als Trickle-Down-Ökonomie. Die Gewinne der Wirtschaft sollten in die unteren Einkommensschichten „runterrieseln“. Dummerweise funktioniert(e) das eben nicht. Die Entwicklung der Reallöhne (Nominallohn abzüglich Inflationsrate) zeigte, dass diese gerade in den unteren Einkommensschichten zurückgingen, statt – wie prophezeit – zu steigen. Das Durchschnittseinkommen stieg zwar, allerdings nur aufgrund des überproportionalen Wachstums in den obersten Einkommensschichten. Im Ergebnis haben wir damit einen kaum handlungsfähigen Staat, ein rudimentäres soziales Netz, große Profite in den oberen Einkommensschichten und eine immer größer werdende Schere in den Einkommensverhältnissen mit einem Rückgang des Einkommens in den unteren Schichten. Das Ganze nennt sich dann „angebotsorientierte Wirtschaftspolitik“.

Lethargie unterbrochen vom Mantel der Geschichte

Derweilen stürzt 1982 in der Bundesrepublik der wirtschaftsliberale Flügel der F.D.P. (damals noch mit Punkten) den Kanzler Helmut Schmidt und der andere Helmut wird Kanzler. Der ist so glücklich darüber, dass er vor lauter Glück gar nichts mehr macht und das Regieren für etwa 16 Jahre komplett einstellt (das Modell war so erfolgreich, dass seine Nach-Nachfolgerin es einfach kopiert hat und damit dann entspannte 16 Jahre Kanzlerin blieb). Von Gestalten darf überhaupt keine Rede sein, unterbrochen wird die reaktive Lethargie zwischenzeitlich vom „Mantel der Geschichte“, dessen Hauch Herrn Dr. Kohl dann kurzzeitig weckt und zur Aktivität antreibt. Der Erfolg sei ihm gegönnt, auch wenn in der Art und Weise der Wiedervereinigung leider einige unserer heutigen Probleme begründet liegen. Das ist aber einen anderen Artikel wert.

Bleibt alles anders

Regiert oder gar gestaltet wird auch nach 1990 nicht wirklich und so stauen sich die Probleme an. Die konservative Beruhigungspille („Bloss nix verändern! Keine Experimente!“) wirkt nicht mehr, die Wähler*innen wollen Veränderung. Also ein bisschen. Wehtun sollte es halt nicht. Am besten bleibt für das Individuum alles, wie es ist. Der Wirtschaft soll’s aber bitte wieder besser gehen (siehe oben). Der geht es nämlich in Deutschland überhaupt nicht gut am Ende der 1990er Jahre. Zudem ist die Staatsverschuldung auf einem Rekordhoch von 1 Billion DM und über allem liegt der Mehltau des Stillstandes der Bonner Republik. Die „geistig-moralische Wende“ ist gelungen.

1998 gelingt es Gerhard Schröder (nach vier anderen Herausforderern), Helmut Kohl abzulösen. Es gelingt ihm mit dem Versprechen „nicht alles anders, aber vieles besser zu machen“. Oder wie Herbert Grönemeyer singt: Bleibt alles anders. Die SPD tritt mit einem Vertrauensvorschuss an. Es wird Veränderungen und Zumutungen geben, aber wir sorgen dafür, dass die kleinen Leute abgefedert und ihre Entbehrungen belohnt werden. Die Blaupause dafür kommt wieder aus den USA und Großbritannien. Tony Blair regiert mit New Labour seit 1997 „Cool Britannia„. Ein dritter Weg soll die europäische Sozialdemokratie modernisieren. In den USA wird Bill Clinton 1993 mit dem Versprechen Präsident, die Wirtschaft anzukurbeln, das Land zu verändern – und eine Krankenversicherung einzuführen.

Entbehrungen und Zumutungen gibt es dann auch haufenweise. Hartz IV wird zum Hassbegriff, Bodo Hombach will das soziale Netz zum Trampolin statt zur Hängematte machen. Zur Entlohnung kommt es nicht mehr. 2005 wird Angela Merkel Kanzlerin einer großen Koalition, in der sich die SPD nicht durchsetzen kann, später wird sie als Koalitionspartnerin von der FDP (jetzt ohne Punkte und mit noch weniger Inhalten) abgelöst. Die neue Regierung profitiert von den rot-grünen Reformen. Die Wirtschaft brummt dank Niedriglohnsektor und Einschnitten in das soziale Netz (also weniger Sozialbeiträgen, was die Arbeitsleistung günstiger macht). Deutschland gilt als modernes Land, als Vorbild und ist nicht mehr der „kranke Mann Europas“. Die geplanten Maßnahmen, die unteren Einkommensschichten am wirtschaftlichen Erfolg zu beteiligen bleiben aber aus. Der Niedergang und die Selbstkasteiung der SPD beginnen. Niemand will mehr die Partei, die mit der Agenda 2010 die kleinen Leute verraten haben soll.

Trickle Down, die Reallöhne und die „Alternative“

Die Folgen sind vergleichbar mit denen in den USA und Großbritannien (ausgenommen der Staatsverschuldung). Die Reallöhne sinken in den mittleren und unteren Einkommensschichten und steigen erst nach der Finanzkrise wieder langsam an (seit der Ampelregierung wieder deutlicher). Der so gepriesene „schlanke Staat“ zeigt sich in der Corona-Pandemie als nur mit großer Kraftanstrengung und viel Geld handlungsfähig und die Landesverteidigung verdient ihren Namen nicht mehr.

2013 betritt eine neue Akteurin die politische Bühne. Die „Alternative für Deutschland“ wird gegründet, ihr Programm ist zu Beginn irgendwo zwischen wirtschaftsliberal, marktradikal, konservativ und national. Der Euro ist Mist und überhaupt wollen wir wieder zurück in die Zeit vor Rot-Grün in unsere beschauliche und übersichtliche Bonner Republik, als alles in der Welt und daheim klar geregelt war. Spannenderweise eine klar männlich dominierte Veranstaltung. Darüber sollte man auch mal nachdenken. Hier wird die Erzählung von der gesunden Wirtschaft dann noch weitergesponnen und endet dann letztlich in der Ideologie der nationalen Alleingänge und der Abschottung. Außerdem braucht es noch ein paar Schuldige für die einfachen Lösungen, wobei vorzugsweise nach unten statt nach oben geschaut wird. Schnell sind die „Asylanten“ und die „Faulen“ identifiziert. Noch ein kleiner Schritt nach rechts und fertig ist die rechtsextreme Partei.

Genauer hingeschaut

Natürlich braucht es eine funktionierende, erfolgreiche Volkswirtschaft. Beschäftigung ist wichtig, das, was wir als Staat (ja, wir alle sind der Staat, das ist kein abstraktes Wesen) ausgeben wollen, muss schließlich auch erwirtschaftet werden. Schulen, Infrastruktur, Sozialleistungen, Umbau der Wirtschaft, Klimaschutz, Fahrradwege in Peru – kostet alles Geld, das irgendwo herkommen muss (und nebenbei gesagt nicht nur Kosten, sondern Investitionen darstellt). Erwirtschaftet wird das von uns allen. Das sollte uns klar sein. Genauso klar sollte sein, dass „Den-Staat-Austricksen“ und „Steuern sparen“ nichts anderes ist als „Sich-Selber-Austricksen“ und „Schulen vergammeln lassen“. Nun ist unser Steuersystem so ausgelegt, dass es umso einfacher wird, Steuern zu sparen, je mehr finanzielle Mittel man zur Verfügung hat. Immobilienbesitz ist beispielsweise ein prima Steuersparmodell. Dumm nur, dass man dazu erstmal Geld braucht, um Immobilien zu kaufen. Am besten erben. Das wird steuerlich auch kaum angetastet. Kurz: je reicher ich bin, desto einfacher kann ich mich meiner Verpflichtungen (Art. 14 Abs. 2 GG) entledigen.

Geld ist grundsätzlich genug da. Für Geflüchtete und deren Integration, für flaschensammelnde Rentner, für Fahrradwege in Peru, für die sozial gerechte Dekarbonisierung, für die Schulen und Kindergärten, für Erzieher*innen, für Altenpflege, für die Gesundheitsversorgung, für die europäische Idee. Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Erde mit einem Anteil von 1,1 Prozent der Weltbevölkerung. 2023 lag das BIP bei 4,12 Billionen (!) Euro.

Gleichzeitig ist klar, dass wir Wirtschaftswachstum zukünftig anders als durch „mehr von allem“ definieren müssen. Die quantitative Betrachtung muss zumindest durch eine qualitative ergänzt werden (mehr dazu hier), was Robert Habeck erfreulicherweise in den Jahreswirtschaftsbericht mit einfließen lässt.

Die Konservativen, die Rechten und die kleinen Leute

Vermögende haben meist kein großes Interesse an großen Veränderungen. Warum auch? Die herrschenden Verhältnisse haben ihren Wohlstand ermöglicht oder zumindest befördert. Deshalb neigen einige Menschen mit großem Vermögen – gerne welche mit Wohnsitz in benachbarten Ausland – auch dazu, konservatives oder gar rechtsextremes Gedankengut zu fördern. Die Konservativen erzählen allen, man müsse nur die Wirtschaft stärken, schon klappe es mit dem Wohlstand für alle und die Faschisten erzählen seit jeher, dass „die Anderen“ Schuld an der Misere der „kleinen Leute“ seien. Einfache Lösung und wunderbares Ablenkungsmanöver, das wunderbar verfängt. Kein Infostand, an dem ich nicht in diese Diskussion verwickelt werde. Die AfD macht endlich was für die kleinen Leute / die eigenen Leute / unser Land / gegen die Faulen oder wer auch immer daran Schuld hat, dass ich mit meinem Verdienst meinen Lebensunterhalt nicht gewährleisten kann!

Spoiler: Macht sie nicht. Genauso wenig wie andere Faschist*innen. Was sie macht, ist die kleinen Leute für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und mit Fake News zu radikalisieren, während sie den Staat runterfährt und plündert. Siehe (Post-)Faschisten in Italien, siehe Nationalsozialisten in Deutschland. Hier eine Zusammenfassung dessen, was die AfD so plant. Schaut man sich nur das Sozialsystem an, weiss man schon, wohin der Hase laufen soll: kein Mindestlohn mehr, Abschaffung der Erbschaftssteuer, Entlastung hoher Einkommen, arbeiten bis ins hohe Alter, Frauen an den Herd. Nichts davon dient den kleinen Leuten. Es dient allein dazu, den Vermögenden zu noch größeren Vermögen zu verhelfen. Auf Kosten der meisten Menschen in diesem Land und auf Kosten der Demokratie.

2 Gedanken zu “Das Märchen von der Wirtschaft – eine konservativ-wirtschaftsliberale Erzählung

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